
Geht es nach Reto Ammann, dem Stiftungsrats-Präsidenten der «Coubertin meets Dunant Foundation», wird spätestens an den Olympischen Winterspielen 2038 in der Schweiz ein «Talent Refugee Olympic Team» auflaufen. Als Statement der neutralen und humanitären Schweiz. Der Vision und deren Wurzeln auf der Spur.
Von Mark Riklin
Freitag, 5. Februar 2038. Am Eröffnungstag der diesjährigen Olympischen und den anschliessend stattfindenden Paralympischen Winterspiele nähern sich Stadler-Züge in den Farben der teilnehmenden Nationen aus allen Himmelsrichtungen dem historischen Zentrum der Schweiz. Auf dem Rütli, dem heiligsten Boden der Schweiz, findet die Eröffnungszeremonie statt, mit einer Premiere: Erstmals in der Geschichte der Olympischen Spiele läuft das «Refugee Olympic Team» Hand in Hand mit dem aus Jugendlichen bestehenden «Talent Refugee Olympic Team» in die Arena unter freiem Himmel. Geflüchtete und Schweizer Sporttalente als Co-Fahnenträger, ein starkes Zeichen an die Weltöffentlichkeit.
Symbol der Hoffnung
«Ein Gänsehaut-Moment», sagt Reto Ammann, der diese Szene als Bild und Fernziel in allen Details verinnerlicht hat. Eine Vision, die ihren Ursprung im Jahre 2016 hat. Genau gesagt am 5. August 2016, als in Rio de Janeiro die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele stattfindet. Der Gesamtleiter des SBW Haus des Lernens verfolgt den erstmaligen Einlauf eines Refugee Teams und die Eröffnungsrede des IOC-Präsidenten Thomas Bach am Bildschirm: «The Refugee Olympic Team send a symbol of hope to all the refugees in the world and a signal to the international community that refugees are an enrichment of our society. Everyone can contribute to the society through their talent, skills and strengths of the human spirit.»
Geburt der Idee
Eine bemerkenswerte Rede, die nicht wirkungslos bleiben soll. «Doch ist sie wirklich ernst gemeint oder Teil einer Feel-Good-Washing-Aktion des IOC», fragte sich Reto Ammann damals im Gespräch mit dem Swiss Olympic Präsidenten Jürg Stahl. Falls das IOC das Flüchtlings-Anliegen wirklich ernst meint, müsste der Gedanke auf die jüngeren Talente ausgeweitet werden. Der Traum eines jungen Menschen sollte sich auf der Flucht nicht einfach verflüchtigen und in Luft auflösen, sondern in einer schwierigen Situation Halt und Hoffnung geben. Konsequenterweise müsste das IOC also auch ein Angebot für die hoffnungsvollsten Talente bereitstellen. Damit ist das «Talent Refugee Olympic Team» zumindest im Kopf geboren und auf dem Weg, sich zu entwickeln.
Audienz bei der Bundespräsidentin
Anlässlich der Olympischen Jugend-Winterspiele in Lausanne bietet sich am 8. Januar 2020 die einmalige Gelegenheit, Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Sportministerin Viola Amherd und IOC-Präsident Thomas Bach das inzwischen entwickelte Konzept «Olympic Refugee Village – Athlete Programme Grade 9-12» vorzustellen: «Das Internationale Olympische Komitee ermöglicht Flüchtenden mit ihrem «Olympic Refugee Athlete Programme» neben den eigentlichen Olympischen Spielen auch den Zugang zu den vorbereitenden Sportanlässen (Bspw: Youth Olympic Games). Die Schweiz unterstützt das Anliegen und verpflichtet sich der Idee, sportlich talentierte jugendliche Refugees im Talent-Campus Bodensee auszubilden.»
Subventionsvertrag mit SEM und BASPO
Das von Jürg Stahl eingefädelte Gespräch verläuft ermutigend, die weiteren Schritte verzögern sich jedoch durch die Coronazeit um fast zwei Jahre. Kurz vor Weihnachten 2021 kann mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) und dem Bundesamt für Sport (BASPO) ein Subventionsvertrag unterzeichnet werden: Der Talent-Campus Bodensee lanciert im neuen Jahr mit dem «Refugee Programme» ein innovatives Integrationsprojekt im Bereich Sport und Schule. In den nächsten vier Jahren sollen insgesamt bis zu 15 sportlich talentierte, sich bereits in der Schweiz befindende jugendliche Geflüchtete im Alter von 12 bis 20 Jahren die Chance erhalten, ihr Talent zu entfalten. Eine Weihnachtsgeschichte der besonderen Art.
Gäste aus der Ukraine
Schon wenige Monate später überschlagen sich die Ereignisse. Über Nacht stranden über 40 Geflüchtete aus der Ukraine am Talent-Campus Bodensee, junge Nachwuchs-Eishockeyspieler im Alter von 9 bis 17 Jahren, begleitet von deren Müttern und Geschwistern. Nach einer mehrtägigen, beschwerlichen Bus-Reise von der slowakisch-ukrainischen Grenze über Budapest nach Kreuzlingen finden sie hier Unterschlupf. Mit vereinten Kräften werden innert weniger Stunden Bettwäsche, Matratzen, Hygieneartikel, Windeln, Babynahrung und Lebensmittel mobilisiert. Bereits nach wenigen Tagen können die Hockeytalente das Training aufnehmen und ihrer Leidenschaft nachgehen.
United Summer Camp
Das Projekt «Coubertin meets Dunant», wie es inzwischen heisst, entwickelt sich Schritt für Schritt weiter. Ende März 2024 lädt die neu gegründete «Coubertin meets Dunant Foundation» zur ersten offiziellen Stiftungsratssitzung. Ende Juni 2024 findet das erste «United Summer Camp» statt, an dem 25 junge Sportler:innen aus Afghanistan, Iran, Hong Kong China und Südkorea teilnehmen: Unter Leitung von Christoph Burkart durchlaufen sie in zwölf Tagen ein abwechslungsreiches Programm mit interkulturellen Trainings, polysportiven Aktivitäten, Benefizspielen vor mehreren hundert Zuschauern, Führungen, United Challenges wie Speakdating und Fotosafari. Im Versuch, über die gemeinsame Leidenschaft Brücken zu bauen und kulturelle Unterschiede zu überwinden.
Fahrt aufgenommen
Am 26. Juli 2024 starten in Paris die nächsten Olympischen Spiele. Stiftungsrat und Swiss Olympic Präsident Jürg Stahl ist vor Ort, während Reto Ammann die Eröffnungsfeier am Fernsehen verfolgt. Und mit Genugtuung feststellt, dass die Lancierung des «Refugee Olympic Teams» Fahrt aufgenommen hat: Bei der Boot-Parade auf der Seine folgt das Refugee-Boot mit 37 geflüchteten Athletinnen und Athleten an zweiter Stelle direkt hinter dem griechischen Boot. Die Verleihung des Laureus Awards an den UNHCR-Präsidenten Filippo Grandi während der Eröffnungszeremonie unterstreicht, wie wichtig dem IOC der Einbezug des Refugee Teams ist. «Ein besonderer Moment, da wir in Genf mit dem UNHCR diverse Gespräche geführt haben und mit unseren Ideen auf Wohlwollen stossen», sagt Reto Ammann.
Talentförderung
Ende September 2024 stellt sich der Bundesrat hinter die Pläne, die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2038 in der Schweiz stattfinden zu lassen. Falls die Schweizer Kandidatur die Anforderungen erfüllt, soll der definitive Zuschlag spätestens bis Ende 2027 erfolgen. Im eingereichten Bewerbungs-Dossier der Schweiz soll dann auch das «Talent Refugee Olympic Team» eine wichtige Rolle spielen, wenn es nach Reto Ammann geht: «Damit zeigt die Schweiz auf, wie wichtig Sport und Bewegung sind und dass Talentförderung einen immensen Impact auf die Entwicklung von Menschen und die Gesellschaft als Ganzes hat.»
Verortung im SBW-Bildungsverständnis
Im SBW Haus des Lernens sollen Menschen ermutigt werden, den eigenen Weg zu gehen und zu Persönlichkeiten (Self-empowered Person) zu reifen, die dem Wandel der Gesellschaft nicht nur gewachsen sind, sondern die Zukunft aktiv mitgestalten (Change Maker) oder gar aktiv vorantreiben (Game Changer). In dem sie beispielsweise im Bereich «Global Identity» Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen und die eigenen Fähigkeiten für die Mit- und Umwelt einsetzen. Mehr dazu auf www.sbw.edu/bildung